Düsseldorf: Bisher tiefster Einblick in das menschliche Genom

Mit Hilfe internationaler Kooperation und modernster Technologie entschlüsselte eine Forschungsgruppe bislang unvollständig rekonstruierte Teile des menschlichen Genoms. In zwei Studien wurden fehlende Sequenzen ergänzt und Einblicke in 183.000 Jahre menschliche Evolution gewonnen.

Symbolbild DNA,
Erbgut (Symbolbild).
© Adobe Stock | petarg

2003 konnte das menschliche Genom im Human Genome Project (HGP) erstmals zu mehr als 90 Prozent abgebildet werden. Das 1000 Genome Project (2007-2015), bei dem die Daten von über 2.500 Menschen zusammengetragen wurden, bot dann erste Einblicke in die Vielfalt des menschlichen Genoms.

Jetzt wurden die Proben durch eine internationale Forschungsgruppe unter Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Tobias Marschall, Genominformatiker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU), erneut analysiert. Die daraus resultierenden Ergebnisse werden nun in zwei Veröffentlichungen in der Fachzeitschrift Nature vorgestellt. Sie bilden die Vielfalt des menschlichen Genoms in bisher nicht erreichter Tiefe ab.
Aufbauend auf dem HGP war es das Ziel des 1000 Genome Projects, das menschliche Genom eines Querschnitts der Weltbevölkerung abzubilden. Mit Projektabschluss 2015 gelang es, das Ziel zu übertreffen. Daten von 2.500 Menschen aus fünf Kontinenten und 26 Populationen wurden zusammengetragen. Beide Projekte haben maßgeblich zum Verständnis der menschlichen Genetik beigetragen.

Zehn Jahre nach Abschluss des Projektes konnte eine internationale Forschungsgruppe unter Beteiligung des Teams um Prof. Dr. Tobias Marschall (Institut für Medizinische Biometrie und Bioinformatik) einen noch detaillierten Blick auf das menschliche Genom werfen. In den jetzt vorgestellten Untersuchungen wurden die Genome, die im Rahmen des 1000 Genome Projects gesammelt wurden, mit modernen Technologien, die 2015 noch nicht zur Verfügung standen, analysiert.

Das Neue: Zum Zeitpunkt des 1000 Genome Projects beruhte die Sequenzierung, also die Bestimmung der Buchstabenfolge des menschlichen Genoms, zumeist auf kleinen DNA-Abschnitten. Diese reichten aus, um ein komplettes Genom zusammenzusetzen. Mit den neuen sogenannten Long-Read-Sequenzierungsmethoden ist nun eine sehr viel tiefergehende Analyse der Genome möglich. Diese Technologien liefern die Sequenzen längerer DNA-Abschnitte in einem Stück und erlauben es so, genetische Unterschiede zwischen Individuen besser zu identifizieren.

Diese sogenannten genetischen Varianten können in verschiedenen Formen auftreten. Etwa als Unterschiede von einem oder wenigen Basenpaaren – den Buchstaben – der DNA-Sequenz. Sie können aber auch tiefgreifender sein, etwa indem längere DNA-Abschnitte bei einzelnen Personen gelöscht, umgekehrt, wiederholt oder hinzugefügt werden. Dies wird auch als strukturelle Varianten bezeichnet. Diese spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung verschiedener genetischer Krankheiten, unter anderem bei bisher ungeklärten, seltenen genetischen Syndromen.


Im Jahr 2023 veröffentlichte das Human Pangenome Reference Project (HPRC), ebenfalls unter Beteiligung von Prof. Marschall, einen Entwurf für eine „Pangenom-Referenz“, also eine Karte menschlicher genetischer Vielfalt, die auf 47 Individuen basiert. Ziel ist es, dass dieser Entwurf das bisher verwendeten Referenzgenom zukünftig ersetzen soll. Dazu werden auch die neuen Studiendaten beitragen.

In der ersten der nun veröffentlichten Studien wurden 1.019 Genome sequenziert. Die Kohorte ist also um mehr als das 20-fache größer als die Daten des HPRC. Dieser neue, deutlich vergrößerte Referenzdatensatz hilft insbesondere, strukturelle Varianten zu studieren, die weniger häufig in der Bevölkerung vorkommen. „Die Varianten in einer vielfältigen Kohorte gesunder Menschen ist essenziell, um besser zur verstehen, welche Varianten in Genomen von Patientinnen und Patienten die Ursache für die vorliegenden Erkrankungen sein können“, so Prof. Dr. Dagmar Wieczorek (Institut für Humangenetik der HHU). Sie war ebenfalls an der Studie beteiligt.

Auch die zweite Untersuchung erweitert das vorhandene Wissen über das menschliche Genom. Der Fokus lag hierbei nicht auf der Quantität neuer Datensätze, sondern auf einer möglichst vollständigen Sequenzierung der Genome. 65 Proben, die ebenfalls Teil des 1000 Genome Projects sind, wurden unter Verwendung besonders leistungsstarker Sequenzierungsmethoden untersucht. Für 1.161 Chromosomen (39 Prozent) konnten die Forschenden vollständige Genomsequenzen rekonstruieren (bekannt als „T2T“ oder „telomere to telomere“). „Dies ist besonders bemerkenswert, weil menschliche Chromosomen Hunderte von Millionen von Basenpaaren lang sein können und eine vollständige Rekonstruktion eines einzelnen Genoms erst vor wenigen Jahren erstmalig gelang“ so der HHU-Bioinformatiker Prof. Dr. Alexander Dilthey. Er ist Arbeitsgruppenleiter am Institut für Medizinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene und hat ebenfalls an der Studie mitgearbeitet.

Darüber hinaus war es durch die nun vollständigen Genome möglich, bestimmte Abschnitte zu verstehen, die mit herkömmlichen Methoden nicht zugänglich sind, wie etwa die Zentromere. Dies sind die Stellen, an denen die beiden Chromosomenstränge bei der Zellteilung miteinander verbunden sind – sie bilden die bekannte X-Form. Die Bedeutung und Konsequenzen von genetischen Varianten in Zentromeren sind bisher nur unvollständig erforscht. Auf Grundlage der neuen Studie können deren Auswirkungen zum Beispiel auf Immunstörungen und Krebs erforscht werden.

Dass beide Studien nun zeitgleich erscheinen, ist aus Sicht von Prof. Dr. Jan Korbel vom Europäisches Laboratorium für Molekularbiologie Heidelberg (EMBL), Ko-Autor beider Papers, ein besonderer Erfolg: „Die erste Studie verwendet zwar weniger leistungsfähige Sequenzierungsmethoden, arbeitet allerdings auf Basis einer sehr viel größeren Kohorte, während die zweite Studie zwar auf einer kleineren Kohorte basiert, dafür fortschrittlichere Sequenzierungsmethoden verwendet. Dies ermöglicht es uns, äußerst robuste und präzise Einblicke in die genetische Variation unseres Erbguts zu gewinnen.“

Auch Prof. Marschall betont, dass nicht nur die Ergebnisse der beiden Untersuchungen wichtige Erkenntnisse liefern. Auch der Umstand, dass nun eine sehr viel größere Datenmenge zur Verfügung steht, welche die Forschung nachhaltig positiv beeinflussen wird. Die neuen Datensätze wurden Forschenden auf der ganzen Welt zur Analyse und Nutzung frei zugänglich gemacht.

Durch diese Studien haben wir eine umfassende und medizinisch relevante Ressource geschaffen, die nun von Forschenden auf der ganzen Welt genutzt werden kann, um die Mechanismen der menschlichen Genomvariationen besser zu verstehen. Dies ist ein großartiges Beispiel für kollaborative Forschung, die neue Perspektiven in der Genomforschung eröffnet und ein Schritt hin zu einem vollständigeren menschlichen Genom darstellt. Ich bin überzeugt, dass wir auf Grundlage dieser wichtigen Erkenntnisse in Zukunft viele Verbindungen von strukturellen genetischen Varianten zu Krankheitsrisiken finden werden.
Prof. Dr. Tobias Marschall, Institut für Medizinische Biometrie und Bioinformatik, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Weltweite Zusammenarbeit

Neben der HHU und dem EMBL waren an beiden Studien Forschungseinrichtungen weltweit beteiligt:


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