Bielefeld: Leitlinien als Hebel für gerechtere Gesundheitsversorgung

Forschende aus Bielefeld zeigen, wie evidenzbasierte medizinische Leitlinien als Hebel für mehr Gerechtigkeit im Gesundheitssystem wirken können – als Steuerungsinstrument und Maßstab.

Prof’in Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, Leiterin der AG Geschlechtersensible Medizin, hat gemeinsam mit ihrem Team einen Beitrag in der Sonderausgabe des British Medical Journal zum Thema „Innovations in Womens Health“ veröffentlicht. © Universität Bielefeld/Mike-Dennis Müller
Prof’in Dr. med. Sabine Oertelt-Prigione, Leiterin der AG Geschlechtersensible Medizin, hat gemeinsam mit ihrem Team einen Beitrag in der Sonderausgabe des British Medical Journal zum Thema „Innovations in Womens Health“ veröffentlicht. © Universität Bielefeld/Mike-Dennis Müller

Wie können klinische Leitlinien so gestaltet werden, dass sie (kontext-)gerechte und inklusive Gesundheitsversorgung ermöglichen – und zugleich Forschung und Innovation gezielt voran-bringen? Diese Fragen diskutieren Prof‘in Dr. Sabine Oertelt-Prigione, Leiterin der AG Ge-schlechtersensible Medizin, und ihre Kolleginnen im Perspektivartikel „Designing clinical practice guidelines for equitable, inclusive, and contextualised care“. Der Beitrag ist Teil der aktuellen Sonderedition des British Medical Journal (BMJ) zum Thema „Innovations in Womens Health“. Insgesamt neun internationale Autorinnen wurden eingeladen, ihre inno-vativen Ansätze für die Frauengesundheit im globalen Kontext in der Ausgabe zu publizieren, darunter auch das Bielefelder Forscher*innenteam der Medizinischen Fakultät OWL.

Im Zentrum des Beitrags steht die Rolle klinischer Leitlinien (Clinical Practice Guidelines, CPGs) als strategisches Instrument im Zusammenspiel von Versorgung, Forschung und Innovation. „CPGs setzen nicht nur klinische Standards – sie können auch aktiv zur Identifikation von Versorgungslücken beitragen und auch Forschungsprioritäten beeinflussen“, sagt Sabine Oertelt-Prigione. „Voraussetzung dafür ist jedoch eine konsequent geschlechter- und kontextsensible sowie methodisch standardisierte Entwicklung“.

Die empirische Grundlage bildet eine Analyse von 325 europäischen Leitlinien aus zehn internistischen Fachgebieten (2012–2022), mit über 14.000 Empfehlungen. Zwar enthielten 74  Prozent der Leitlinien geschlechts- oder genderbezogene Begriffe, doch nur 4,7  Prozent der Empfehlungen griffen diese Aspekte tatsächlich auf – meist im Kontext von Reproduktion, Gynäkologie oder Urologie. Empfehlungen zu geschlechtsspezifischen Fragen jenseits klassischer „Frauenthemen“ blieben die Ausnahme. Besonders deutlich wird dies in der Kardiologie: Trotz hoher Relevanz behandeln nur 1,6  Prozent der Empfehlungen geschlechtsübergreifende Aspekte. Ein weiteres Ergebnis: Die Leitlinienkomitees waren mehrheitlich männlich dominiert – unabhängig vom Inhalt. „Dabei zeigen Studien, dass weibliche Forschende eher geneigt sind, Genderaspekte einzubeziehen“, so Oertelt-Prigione. „Eine diversere Besetzung von Expert*innengremien ist daher zentral für inklusivere Empfehlungen“. Das Forscher*innenteam fordert deshalb eine strukturelle Neuausrichtung der Leitlinienentwicklung: Zielgruppen, soziale Kontexte und Versorgungskapazitäten müssen von Beginn an berücksichtigt werden, um auch außerhalb hochentwickelter Systeme anwendbare Leitlinien zu ermöglichen.

Im Beitrag schlagen sie deswegen konkrete methodische Ansätze vor, die die Erarbeitung von Leitlinien unterstützen können, um sie inklusiver zu gestalten. Dazu zählt etwa die Nutzung des Implementierungsrahmens PIPOH, der Zielgruppe, Intervention, Berufsgruppe, erwartete Outcomes und Versorgungskontext systematisch erfasst. Zudem empfehlen die Autor*innen die Einbindung von Stakeholdern mit praktischer Erfahrung – auch aus Ländern mit niedrigerem Einkommen – sowie den Einsatz digitaler Tools zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung. Voraussetzung sei hier ein ethisch fundierter und transparenter Umgang mit KI. Feedbackschleifen mit lokalen Anwenderinnen könnten zudem digitalisiert und als „Living Guidelines“ kontinuierlich weiterentwickelt werden.

Abschließend plädiert das Team für die Einrichtung einer übergeordneten, unabhängigen Institution, die internationale Standards koordiniert, Umsetzungen begleitet und Leitlinien zentral archiviert. Das könnte Transparenz und Nachvollziehbarkeit stärken – auch über Europa hinaus. „Denn Leitlinien haben enormes Potenzial über die klinische Versorgung hinaus“, sagt Sabine Oertelt-Prigione. „Sie können helfen, strukturelle Ungleichheiten in Forschung und Versorgung sichtbar zu machen und so weltweit zu einer gerechteren Gesundheitsversorgung beitragen.“


Weitere Informationen

Der Leuchtturm Gendermedizin.NRW beschäftigt sich mit der Berücksichtigung von Geschlechts- und Genderaspekten in der medizinischen Forschung sowie in der Vorsorge, Diagnose, Therapie und Nachsorge.

Gleichzeitig dient der Leuchtturm als zentrale Plattform für Vernetzung und Austausch in NRW.

Weitere Neuigkeiten aus NRW zu Innovationen, Forschungsergebnissen und Entwicklungen der innovativen Medizin finden Sie bei unseren News.


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