25.11.2022
Wissenschaftler aus Essen, Heidelberg Leipzig und Münster vermuten, dass der Fettstoffwechsel im Nerven von Polyneuropathie-Patient:innen gestört ist. Das löst eine lokale Immunreaktion aus, die wiederum weitere Prozesse in Gang setzt. Diese zerstören letztendlich die Nervenhülle. Diese Annahme ist Grundlage für die Erforschung neuer Diagnose- und Therapiemethoden von PNP, für die das Wissenschaftskonsortium nun 3,9 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium erhält.
Sensible Ausfälle wie brennende Missempfindungen an der Fußsohle, schmerzende Muskelkrämpfe in den Waden oder in den Oberschenkeln, mitunter auch Muskelschwäche: 3,5 bis 5,5 Millionen Menschen in Deutschland leiden irgendwann in ihrem Leben unter solchen Symptomen – Tendenz steigend. Die Diagnose kann in diesen Fällen lauten: Polyneuropathie. Obwohl mehr Menschen von ihr betroffen sind als von den meisten anderen neurologischen Erkrankungen, verlaufen Diagnose und Therapie oft unbefriedigend – es fehlt an Wissen zu der Krankheit. Ein Konsortium von Forscherinnen und Forschern aus Münster, Essen, Heidelberg und Leipzig will diese daher nun mit neuesten Techniken untersuchen, um die Situation zu verbessern. Dafür erhält der Verbund in den kommenden drei Jahren vom Bundesforschungsministerium insgesamt 3,9 Millionen. Euro. Rund 700.000 Euro davon gehen nach Münster.
Herausforderungen bei der Polyneuropathie
Zunächst muss die genaue Ursache bekannt sein, um die Krankheit korrekt behandeln zu können. Doch die Liste möglicher Gründe für eine Polyneuropathie ist lang. Ein gestörter Zuckerstoffwechsel, Infektionen, Mangelernährung oder Alkoholismus gehören genauso dazu wie Chemotherapien, Autoimmunerkrankungen oder genetische Veränderungen. Um mehr Erkenntnisse über die Krankheit und Ansätze zu ihrer Behandlung zu gewinnen, konzentriert sich das neue Projekt mit dem Kurztitel LINC („Lipid Immune Neuropathy Consortium“) auf die fettreiche Schutzhülle, die jede Nervenfaser umgibt: die Myelinscheide. Sie steht im Zentrum eines möglichen „zerstörerischen Teufelskreises“, wie Prof. Dr. Gerd Meyer zu Hörste, Oberarzt der neurologischen Uniklinik in Münster und Koordinator des Projekts an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, die komplexen Vorgänge der Polyneuropathie beschreibt.
Bei der Neuropathie kann ein solcher Teufelskreis aus zwei Richtungen beginnen. Einerseits kann die Zusammensetzung der die Nerven umhüllenden Fettschicht geschädigt werden – zum Beispiel aus genetischen Gründen. Dieser Schaden aktiviert Immunzellen, die das „falsche“ Fett im Nerven ins Visier nehmen, die Schutzhülle von außen angreifen und einen entzündlichen Prozess auslösen. Dadurch schädigen sie die schützende Hülle weiter – was ihnen wiederum mehr Angriffsfläche verschafft. Umgekehrt können aber auch aus unbekannten Gründen die Fett erkennenden Immunzellen den Anfang machen und die eigentlich intakte Schutzhülle direkt angreifen. Entzündliche und erbliche Faktoren verstärken sich dann gegenseitig. LINC untersucht den Teufelskreis deshalb von beiden Seiten, sagt Gerd Meyer zu Hörste, „einerseits von der Fettschicht und andererseits vom Immunsystems ausgehend“. Hierfür haben sich vier Fachleute aus ganz unterschiedlichen Bereichen zusammengeschlossen.
Das LINC-Konsortium
Prof. Mark Stettner, Neuroimmunologe an der Universität Duisburg-Essen, ist einer von ihnen. Er erforscht in Zellkulturen, was bei der Neuropathie auf zellulärer Ebene geschieht. Der Schwerpunkt liegt vor allem auf dem Zusammenspiel zwischen dem Fettstoffwechsel der Nerven und der Aktivierung von Fett erkennenden Immunzellen. In Münster werden Gerd Meyer zu Hörste und seine Arbeitsgruppe die Zellen aus den Nerven von Polyneuropathie-Patienten mit hochauflösenden genetischen Methoden untersuchen. Idealerweise findet sich so ein Wert, mit dem sich die Ursache einer Polyneuropathie eindeutig und schnell herausfinden lässt. „Aktuell entdecken wir die Ursache meist durch Ausschlussdiagnostik. Dafür müssen Patientinnen und Patienten aber Dutzende Tests durchlaufen und am Ende bleibt oft nur zu sagen, woran es nicht liegt. Besser wäre es natürlich andersherum: Wir machen einen Test und finden dann gleich die richtige Ursache, mit der wir alle anderen ausschließen“, erläutert Gerd Meyer zu Hörste das Fernziel.
Die Arbeitsgruppe von Prof. Britta Brügger betrachtet das Problem aus dem Blickwinkel der Biochemie. Die an der Universität Heidelberg arbeitende Hochschullehrerin ist ausgewiesene Expertin für Fette, auch Lipide genannt. Mit ihrem Team untersucht sie unter anderem, wie sich bei Polyneuropathie die Zusammensetzung von Fetten und Lipiden ändert. Viertes Mitglied im Verbund sind die Arbeitsgruppen von Prof. Ruth Stassart und Dr. Robert Fledrich an der Universität Leipzig. Die Teams haben in vorherigen Studien bereits aufgezeigt, dass sich die Hülle von Nervenzellen bei Mäusen regenerieren kann, wenn die Tiere mit bestimmten Fetten gefüttert werden. Bei Menschen ist dieser Zusammenhang noch nicht bewiesen. Daher wollen die LINC-Arbeitsgruppen in Leipzig in ihrem Teilprojekt eine entsprechende Studie vorbereiten.
Die interdisziplinäre Herangehensweise von LINC ist bisher einmalig bei dieser sehr häufigen neurologischen Erkrankung. „Unser Konsortium verfügt somit über ein großes Potenzial für eine deutlich verbesserte Diagnostik und neue Therapieansätze bei bisher unzureichend behandelbaren Polyneuropathien“, zeigt sich Gerd Meyer zu Hörste optimistisch.
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