16.05.2023
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine chronische Erkrankung, die die Lebensqualität vieler Betroffener stark einschränkt. Zu den Beschwerden zählen unter anderem Fatigue, also starke Erschöpfung, Schmerzen sowie Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Die Symptome können sich schon nach leichten körperlichen oder geistigen Aktivitäten für Tage oder auch Wochen verschlimmern. Diese Belastungsintoleranz oder
(PEM) gilt als Leitsymptom der Erkrankung.Auftrag des BMG
Im Frühjahr 2021 hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) das IQWiG beauftragt, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zum Thema ME/CFS fachlich und allgemein verständlich aufzuarbeiten und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Nach einem Vorbericht im Herbst 2022 und einem Stellungnahmeverfahren unter reger Beteiligung von Fachgesellschaften, Forschenden, Betroffenen und Betroffenen-Organisationen liegt nun der finale Bericht vor.
Höhere Patient:innenzahl
Die Hinweise aus den Stellungnahmen und ein Update der Literaturrecherche haben vor allem an zwei Stellen zu Veränderungen geführt: Zum einen reicht die Schätzung der Zahl der Patient:innen in Deutschland nun höher als im Vorbericht. Zum anderen leitet das IQWiG für die sogenannte Aktivierungstherapie in der Gesamtabwägung der Vor- und Nachteile keinen Anhaltspunkt für einen Nutzen mehr ab, da schwere Nebenwirkungen der Therapie auf Basis der Studiendaten nicht ausgeschlossen werden können.
Vierteiliger Bericht
Der Bericht, den das Institut nun auf seiner Website veröffentlicht, hat vier Teile:
- Erstens wurde der aktuelle Wissensstand zum Krankheitsbild ME/CFS systematisch aufgearbeitet: Dargestellt werden die Beschwerden oder Symptome, mutmaßliche Ursachen, epidemiologische und versorgungsrelevante Aspekte und aktuelle Diagnosekriterien.
- Zweitens hat das Institut eine sogenannte Evidenzkartierung vorgenommen, also hinsichtlich ausgewählter Therapieziele eine Übersicht über die Studienlage zu versorgungsrelevanten Therapieoptionen gegeben.
- Drittens wurden zu zwei Therapieverfahren, die in der Evidenzkartierung identifiziert wurden, Nutzenbewertungen durchgeführt, also die Vor- und Nachteile für Patientinnen und Patienten mit ME/CFS so weit wie möglich ermittelt und gegeneinander abgewogen.
- Das vierte Ziel war die Erstellung einer mehrteiligen Gesundheitsinformation, die das relevante Wissen in verständlicher Weise vermittelt. Diese Texte wurden in Nutzertests geprüft und nun auf gesundheitsinformation.de veröffentlicht.
Ursachen unklar, Diagnose schwierig, Prävalenz im Fluss
Obwohl ME/CFS bereits 1969 von der WHO als neurologische Krankheit klassifiziert wurde, sind die Ursachen nach wie vor nicht geklärt. Erste ME/CFS-Symptome setzen oft nach einer Infektion oder einem Trauma (etwa an der Halswirbelsäule) ein. Mangels eindeutiger Biomarker für ME/CFS, etwa Labortests oder Bildgebungsbefunde, orientiert sich die Diagnose an den Symptomen, die aber sehr unterschiedlich ausfallen können.
Zudem haben sich die Kriterien zur Diagnose der Erkrankung in den letzten Jahrzehnten verändert: In vielen älteren Publikationen wurde PEM nicht als Leitsymptom angesehen, das zwingend vorliegen muss, um eine ME/CFS zu diagnostizieren. Solche Ungewissheiten wirken sich auf die Schätzung der Zahl der Betroffenen (Prävalenz) aus. Zudem wurde im Abschlussbericht im Gegensatz zum Vorbericht auch die Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen betrachtet. Insgesamt schätzt das IQWiG die Anzahl von Patientinnen und Patienten mit ME/CFS in Deutschland in der Zeit vor der SARS–CoV-2-Pandemie auf ungefähr 140.000 bis 310.000.
Da ein Teil der Post-COVID-Patientinnen und -Patienten die ME/CFS-Diagnosekriterien erfüllt, dürfte die Zahl seither gestiegen sein. Eine verlässliche Schätzung ist aber aufgrund fehlender Daten noch nicht möglich.
Nur wenige Aussagen zu Vor- und Nachteilen von Behandlungen möglich
Zur Übersicht über die Therapieoptionen (Evidenzkartierung) gab es in der Anhörung zum Vorbericht und der Aktualisierung der Recherche keine neuen Hinweise. Nach wie vor zeigen sich nur zur kognitiven Verhaltenstherapie (Cognitive Behavioural Therapy, kurz CBT) und zur Aktivierungstherapie (Graded Exercise Therapy, kurz GET) in je zwei Studien statistisch signifikante positive Effekte gegenüber einer ärztlichen Standardversorgung.
In der Nutzenbewertung für diese beiden Interventionen wurde aufgrund der Hinweise im Stellungnahmeverfahren besonderes Augenmerk auf Indizien für ein Schadenspotenzial gerichtet. Das IQWiG leitet für die kognitive Verhaltenstherapie weiterhin einen Anhaltspunkt für einen kurz- und mittelfristigen Nutzen ab, der sich etwa in den Endpunkten Fatigue, soziale Teilhabe oder Krankheitsgefühl nach Anstrengung ausdrückt. Für einen längeren Zeitraum liegen keine Daten vor. Zur Bewertung der Vor- oder Nachteile einer CBT bei Patientinnen und Patienten mit höherem ME/CFS-Schweregrad gibt es keine geeigneten Studien.
Keine Heilung
„Unsere Ergebnisse machen klar, dass eine CBT die Erkrankung nicht heilen kann“, sagt Daniel Fleer, Bereichsleiter im IQWiG-Ressort Nichtmedikamentöse Verfahren. „Sie ist aber ein Angebot vor allem an leichter erkrankte Patientinnen und Patienten, etwas besser mit ihrer Situation zurechtzukommen.“
Für die GET – also eine schrittweise Erhöhung der körperlichen Aktivität, ausgehend von einem individuellen Ausgangswert – zeigen zwei Studien für Betroffene mit leichter bis moderater ME/CFS in mehreren patientenrelevanten Endpunkten zwar statistisch signifikante, aber im Mittel nur kleine Vorteile gegenüber der Standardtherapie. Die klinische Relevanz der meisten Aktivierungseffekte bleibt fraglich. Beispielsweise konnten viele Patientinnen und Patienten nach einer GET innerhalb von sechs Minuten einige Meter weiter gehen; gegenüber Gesunden war die Gehstrecke aber immer noch stark verkürzt.
In der Anhörung zum Vorbericht haben mehrere Stellungnehmende darauf hingewiesen, dass Patient:innen mit ME/CFS nach Therapien, die eine Steigerung der körperlichen Aktivität beinhalteten, über Zustandsverschlechterungen berichten. Es ist unklar, inwieweit diese Verschlechterungen nach sachgemäßen Anwendungen einer GET aufgetreten sind, wie sie in den Studien-Handbüchern beschriebenen ist, oder nach anderen Behandlungen zur Steigerung der körperlichen Aktivität. Die in den Studien erhobenen Daten sind jedenfalls nicht aussagekräftig genug, um einen Nachteil durch schwerwiegende Nebenwirkungen der GET auszuschließen. Daher ist eine verlässliche Abwägung von Nutzen und Schaden der GET für leicht bis moderat Erkrankte derzeit nicht möglich. Für Patient:innen mit höherem ME/CFS-Schweregrad gibt es auch hier keine geeigneten Studiendaten.
Bedarfsgerechte Gesundheitsinformationen
Aus den in der Fachliteratur dokumentierten Erfahrungen von Patientinnen und Patienten mit ME/CFS hat das IQWiG die wichtigsten Informationsbedürfnisse abgleitet. Daraus und aus den Ergebnissen der anderen Teile des IQWiG-Berichts wurde eine vierteilige Gesundheitsinformation entworfen, die einen Überblick über die Erkrankung gibt und für Betroffene und Angehörige insbesondere die Themen Diagnose, Behandlung und Unterstützung im Alltag vertieft.
Betroffene und Angehörige prüfen Textentwürfe
Elf unterschiedlich schwer Betroffene und vier Angehörige haben die Textentwürfe auf Verständlichkeit, Akzeptanz und Erfüllung der Informationsbedürfnisse getestet. Die meisten Befragten bewerteten die Texte als übersichtlich und verständlich. Die Inhalte waren aus ihrer Sicht im Wesentlichen vollständig. Die als Fragen formulierten Zwischenüberschriften wurden positiv aufgenommen. Zu den meisten Passagen gab es nur einzelne Änderungs- und Ergänzungsvorschläge, die geprüft und zum Teil umgesetzt wurden. So wird in den finalen Versionen nun deutlicher hervorgehoben, dass PEM ein Leitsymptom von ME/CFS ist. Die auf gesundheitsinformation.de veröffentlichten Informationen werden fortan regelmäßig aktualisiert.
Handlungsempfehlungen für Gesundheitspolitik, Ärzteschaft und Wissenschaft
Der Bericht des IQWiG an das BMG hat Wissenslücken und Defizite in der Versorgung aufgezeigt, zu deren Behebung verschiedene Elemente kombiniert werden sollten. „Dazu gehört eine leicht auffindbare, sachliche und verständliche Aufklärung über ME/CFS“, sagt Klaus Koch, Leiter des Ressorts Gesundheitsinformation im IQWiG. „Die brauchen insbesondere neu an ME/CFS erkrankte Menschen, aber auch die breite Öffentlichkeit.“ Entsprechende Lehrinhalte sollten zudem in die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen integriert werden.
Dringend erforderlich ist auch ein internationaler Konsens über die Diagnosekriterien, und zwar mit möglichst klaren diagnostischen Parametern. Auf dieser Basis sollten die Forschungsanstrengungen zur Klärung der Ätiologie, zur Therapie von ME/CFS und zur Gestaltung der Versorgung verstärkt werden. Auf all diesen Gebieten gibt es zu wenig interdisziplinäre Forschung.
Im Rahmen geeigneter Studien sollte dem potenziellen Nutzen und Schaden von aktivierenden Therapien wie der GET weiter nachgegangen werden. Dabei sollte auch geklärt werden, ob ein Schadenspotenzial primär mit einer nicht sachgerechten Ausgestaltung der Therapie oder auch mit einer regelkonformen Aktivierung einhergehe.
Eklatant sei auch der Mangel an aussagekräftigen Studien zu den Vor- oder Nachteilen einer als
bezeichneten Form des Selbstmanagements, bemerkt Fleer. „Dabei scheint im Versorgungsalltag vieler ME/CFS-Patientinnen und -Patienten eine große Rolle zu spielen. Diese Evidenzlücke sollte zügig geschlossen werden. Unseres Erachtens sind entsprechende Studien auch relativ einfach machbar.“Weitere Informationen
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