23.07.2021
Die zielgerichtete Wirkstoffentwicklung ist sehr erfolgreich bei der Identifizierung neuer Wirkstoffkandidaten, die meist die Funktion der Zielproteine oder ihre Interaktion mit anderen Proteinen verhindern. Jedoch greifen die gefundenen chemischen Substanzen sehr häufig auch andere, verwandte Proteine an, die eine ähnliche Funktion oder Struktur haben. „Es kommt nicht selten vor, dass ein zunächst Erfolg versprechender Wirkstoffkandidat erst spät in der langjährigen Entwicklung schwerwiegende Nebenwirkungen zeigt und somit der klinische Einsatz eingeschränkt oder gar verhindert wird“, sagt Slava Ziegler.
Um möglichen Nebenwirkungen von potentiellen Wirkstoffkandidaten auf die Spur zu kommen, wird bei der Wirkstoffentwicklung in einer Reihe von Testverfahren ihre Wirkung auf bekannte Proteinklassen, biologische Prozesse und bestimmte Zelleigenschaften untersucht. Da jedoch die Anzahl der bekannten Zielmoleküle in der Zelle begrenzt ist, können auch diese Testverfahren nur die erwartete Bioaktivität wiedergeben. Sogenannte Profilierungs-Ansätze bieten mittlerweile die Möglichkeit, ein größeres Wirkspektrum einer Substanz zu erfassen. Bei diesen unvoreingenommenen Testverfahren werden simultan hunderte zelluläre oder genetische Parameter in einem Profil erfasst, das mit Profilen von Referenz-Wirkstoffen mit bereits bekannten Wirkungen verglichen wird.
Wenn die Wirkstoff-Profile übereinstimmen
In ihrer neusten Forschungsarbeit hat die Gruppe um Herbert Waldmann und Slava Ziegler zwei Profilierungs-Ansätze kombiniert, um bioaktive Substanzen aus einer Substanzbibliothek mit ca. 15000 Naturstoff-inspirierten Molekülen zu identifizieren und sie mit den Profilen von bekannten Wirkstoffen zu vergleichen. Mit dem „Cell Painting“ Ansatz, in dem mehrere funktionelle Bereiche der Zelle gefärbt und anschließend mikroskopisch auf Veränderungen untersucht werden, konnte ein großer Cluster von Substanzen mit ähnlichen Profilen ausgemacht werden. Eine Vorhersage über die Wirkweise des Clusters war jedoch nicht möglich, da diese Referenzsubstanzen sehr unterschiedliche Aktivitäten, also Zielmoleküle, aufwiesen. Mit einer anschließenden Suche mittels Proteom-Profilierung, bei der die Mengen tausender Proteine und ihre Regulation quantifiziert wird, konnten die Forschenden den Cluster auf eine für die meisten Referenzsubstanzen ungeahnte biologische Aktivität eingrenzen: die Fehlregulation der Cholesterinhomöostase.
Doch wie können so viele Substanzen, die unterschiedlichste Zielmoleküle im Körper angreifen, die gleiche Wirkung auslösen? Die Forschenden konnten zeigen, dass die meisten Substanzen des Clusters im Lysosom akkumulieren, einem Organell, in dem das Cholesterin für seine weitere Funktion in der Zelle zwischengelagert wird. Das Lysosom weist einen niedrigeren pH-Wert als der Rest der Zelle auf, und dieser ist von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der lysosomalen Verdauungsenzyme, die fremde und eigene Biomoleküle verarbeiten. Im Lysosom erhöhen die Substanzen aus dem beschriebenen Cluster den pH-Wert und stören somit die Funktion dieses Organells und insbesondere den Cholesterinhaushalt der Zelle. Dass sich die Substanzen im Lysosom anlagern, ist nicht auf ein konkretes Zielmolekül im Lysosom sondern auf ihre chemischen und physikalischen Eigenschaften zurückzuführen, die sie durch ihre strukturelle Optimierung für eine verbesserte Löslichkeit erhalten haben.
„Interessanterweise wurde ein gestörter Cholesterinhaushalt bereits mit einigen auf dem Markt erhältlichen Medikamenten in Verbindung gebracht, wie z. B. Psychopharmaka,“ stellt Tabea Schneidewind, Erstautorin der Studie, fest. „Mit der Kombination der beiden Suchstrategien können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: dem Grund für Nebenwirkungen auf die Spur kommen und neue Wirkstoffe und Wirkmechanismen identifizieren“, fasst Slava Ziegler zusammen.
Weitere Informationen
Zur Pressemitteilung beim idw.
Zur Website des MPI für Molekulare Physiologie in Dortmund.