20.12.2022
Die COVID-Pandemie hat aktuell ein wenig an Schrecken verloren. Es gibt Impfungen, die in der Regel gut vor schweren Verläufen schützen, und auch gegen die akute Infektion liegen inzwischen zugelassene Medikamente vor. Ganz anders sieht es allerdings bei der Erkrankung aus, die meistens unter den Namen Long-COVID und Post-COVID zusammengefasst wird und bei der oft auch die sogenannte myalgische Enzephalomyelitis mit Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) vorliegt. Für diese Syndrome gibt es bislang keine echte Therapie. Und auch ihren Ursachen und Mechanismen kommt die Forschung erst langsam auf die Spur.
Eine neue Nationale Klinische Studiengruppe möchte nun herausfinden, ob bereits für andere Krankheiten zugelassene, auf dem Markt erhältlich Medikamente gegen ME/CFS wirken. Die Studie wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 10 Millionen Euro gefördert. Sie bringt die Expertise verschiedener spezialisierter Studienpartner zusammen.
Untersuchung auf Einzelzell-Ebene
Beteiligt ist auch der Forschungsbereich Systemmedizin des DZNE unter der Federführung von Marc Beyer, Anna Aschenbrenner und Joachim L. Schultze. Mit modernster Labortechnologie untersuchen die Bonner Forschenden, wodurch sich kranke und gesunde Zellen auf zellulärer und molekularbiologischer Ebene unterscheiden – und was Medikamente hier konkret bewirken. Für das Forschungsprojekt schaut die Projektgruppe auf Zellen im Blut von Menschen, die an ME/CFS leiden: vor, während und nach der Behandlung mit unterschiedlichen Medikamenten (die bisher insbesondere gegen Entzündungen, Durchblutungsstörungen und Autoantikörper, also Antikörper, die bestimmte körpereigene Proteine angreifen, eingesetzt werden und zugelassen sind).
Das Stichwort hierzu lautet: Hochdurchsatz-Einzellzell-Transkriptomanalyse. Mit diesem hoch empfindlichen Verfahren prüfen die Wissenschaftler:innen in den Laboren auf dem Bonner Venusberg, ob die verabreichten Medikamente das Transkriptom der Zellen verändern, und wenn ja: wie genau. Dafür werden zunächst einmal viele verschiedene Zellarten aus Blutproben der Studienteilnehmer vereinzelt und separiert. Durch Next-Generation-Sequencing und computergestützte Analysen ist es anschließend möglich, die Aktivität von tausenden Genen einer Zelle gleichzeitig zu erfassen und zu erkennen, wie diese auf bestimmte Behandlungen reagiert. „Durch die Einzelzellanalysen können wir uns ein genaues Bild vom Zustand der Zelle machen. Und wir können auch schnell erkennen, ob ein verabreichtes Medikament auf dieser Ebene tatsächlich wirkt“, bringt Marc Beyer, Arbeitsgruppenleiter am DZNE und mitverantwortlicher Projektleiter der Biomarkerplattform wesentliche Vorteile des Verfahrens auf den Punkt.
Sollten sie dabei feststellen, dass Veränderungen auf der Transkriptom-Ebene der Zellen mit klinischen Beobachtungen korrelieren, lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Wirkmechanismen des Medikamentes gegen die ME/CFS ziehen. Darüber hinaus lassen sich durch solche empirisch eindeutig belegbaren Ergebnisse die durch die Patienten geschilderten und ärztlich beobachteten Verbesserungen objektivieren.
Gesucht: eindeutige Biomarker
Um sicher sagen zu können ob verabreichte Medikamente auch tatsächlich zur Genesung führen, ist es weiterhin hilfreich zu wissen, was genau kranke Zellen von gesunden unterscheidet – also wie das Transkriptom einer gesunden Zelle aussieht, welche Veränderungen auf eine ME/CFS-Erkrankung hindeuten, und ob sich eine Zelle wieder vom kranken zum gesunden Zustand entwickelt. Auf Basis von Laborwerten ist das bei ME/CFS bisher nicht möglich. Die Diagnose wird nur anhand des klinischen Bildes gestellt.
Sehr hilfreich wären deshalb sogenannte Biomarker, also im Blut eindeutig nachweisbare Signale für die Erkrankung. Wenn bei einer signifikanten Zahl von Patienten die klinischen Symptome mit bestimmten Transkriptom-Mustern korrelieren, könnten diese Transkriptom-Muster ein Biomarker sein. Auch nach diesen wird am DZNE gesucht, im Rahmen eines weiteren, durch Anna Aschenbrenner geleiteten Studienprojektes. „Bei der Sequenzierung von Einzelzelltranskriptomen fallen sehr große, komplexe Datenmengen an. Bei der Suche nach Mustern, die typisch für ME/CFS sind, nutzen wir daher fortgeschrittene, KI-gestützte Analyseverfahren. Auf diese Weise hoffen wir, einen Zusammenhang herstellen zu können zwischen den klinischen Symptomen und Geschehnissen auf der zellulären Ebene“, erklärt Aschenbrenner den experimentellen Ansatz. Das langfristige Ziel könnte die Entwicklung von Testverfahren sein, mit denen Ärzte oder Labore diese Biomarker auslesen und zur Diagnosestellung nutzen können.
Erkenntnisse nützen den Menschen
Joachim L. Schultze, Leiter des Forschungsbereichs Systemmedizin am DZNE ist überzeugt vom nachhaltig wirksamen Beitrag des DZNE für die Studie – und auch darüber hinaus. „Mit Einzelzell-Analysen können wir uns heute ein deutlich schärferes Bild von den genauen Krankheitsmechanismen und den daraus abgeleiteten Wirkprinzipien von Medikamenten machen. Und dieses Bild können wir durch weitere Forschung stetig verfeinern. Die Kenntnisse, die wir durch unsere Arbeit für die Nationale Klinische Studiengruppe zu Long COVID und ME/CFS gewinnen, nützen zunächst einmal den Menschen, die an diesen Erkrankungen leiden. Mittel- und langfristig bilden sie aber auch die Basis für weitere Fortschritte in der Präzisionsmedizin und bei der Diagnostik und Behandlung vieler anderer Krankheiten“.
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